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26.08.21 –
Oberbergs Grünen-Kreissprecherin Sabine Grützmacher möchte in den Bundestag nach Berlin. Ich durfte die Gummersbacherin interviewen.
1. Können Sie sich für unsere Leser*innen bitte kurz vorstellen und Ihren Werdegang beschreiben?
Sabine Grützmacher: „Ich bin 35 Jahre alt, ursprünglich aus Morsbach und wohnhaft in Gummersbach. Ich habe in Kiel Soziale Arbeit studiert und anschließend beruflich Frauen rund um die Themen Erwerbsleben, beruflichen Wiedereinstieg oder auch Existenzgründungen beraten und war Ansprechpartnerin für Unternehmen zu Fragen der Förderung von Frauen in Führungspositionen oder Diversity Management. Relativ schnell zum Berufseinstieg habe ich mir die Frage gestellt, was es an Fördermitteln für Soziale Projekte gibt und im Zuge dessen Fördermittelanträge geschrieben und Fundraising betrieben. Mittlerweile lebe ich wieder im Oberbergischen und bin als Geschäftsführerin einer gemeinnützigen Organisation, die zum Paritätischen Wohlfahrtsverband gehört, unter anderem für die Akquise von Fördergeldern für Projekte z.B. zur Bekämpfung von Kinderarmut tätig. Zu den Grünen bin ich vor gut 10 Jahren gekommen, als ich damals mal auf einer Demonstration gegen Studiengebühren mitgemacht habe. Im Stadtrat Gummersbach und im Kreistag bin ich aktives Mitglied und Kreissprecherin der Grünen Oberberg.“
2. Welches sind die für Sie aktuellen und relevanten kommunalen Themen, die im Bundestag eingebracht werden sollten?
Sabine Grützmacher: „Da gibt es wirklich einige, unter anderem Umwelt- und Klimaschutz; insbesondere auf dem Land, Kohleausstieg bis 2030, massiver Ausbau von erneuerbaren Energien (Wasser-/Sonne-/Windenergie), pragmatische und bürokratiearme Fördermittelvergabe und eine regionale und individuelle Daseinsvorsorge sowie eine transparente Politik und der legislative Fußabdruck.“
2.a. Die ersten Themen sind aktuell allgegenwärtig und bekannt, aber was genau meinen Sie mit der „pragmatischen Fördermittelvergabe“ sowie dem „legislativen Fußabdruck“?
Sabine Grützmacher: „Zum ersten Thema gehört, dass Fördermittel dahin gehören, wo es tatsächlichen Bedarf gibt, Kommunen entlastet werden und diese bei der Entwicklung von Projekten mehr Mitspracherechte bekommen. Zum legislativen Fußabdruck gehören Fragen wie: Welche Lobbyaktion hat an welcher Entscheidung mitgewirkt? Wer hat sich im Vorhinein getroffen? Zum Beispiel kommen auf eine*n Klimapolitiker*in ca. 30-40 Klimalobbyist*innen in Berlin. Dieser sogenannte Fußabdruck soll eine Beeinflussung von Gesetzesentwürfen bereits beim Entstehen sichtbar und nachvollziehbar machen und wäre ein wichtiger Bestandteil eines Lobbyregisters – die jetzigen Regelungen sind zu lasch und nicht transparent genug.
3. Sie hatten auch das übergeordnete Thema „Umwelt- und Klimaschutz“ angesprochen. Aktuell wird auch über den Klimabericht des Weltklimarates debattiert. Darin wird unter anderem gewarnt, dass eine schnellere Erderwärmung stattfindet, als zunächst angenommen wurde und selbst das 2-Grad-Ziel gefährdet sei. Wie kann die Politik damit umgehen und welche Themen werden in den Fokus genommen? Gibt es konkrete Handlungsmöglichkeiten, die sich daraus ableiten lassen?
Sabine Grützmacher: „Wir wissen mittlerweile seit über 30 Jahren, was unsere derzeitige Politik an Klima- und Umweltschäden verursacht. Ableiten lässt sich, dass wir unseren Kindern eine Erde schuldig sind, die noch lebenswert ist. Ich denke, wichtig ist, dass Menschen verstehen, dass Wirtschaft und Klima verbunden werden müssen. Wenn wir so weitermachen, wie bisher, werden Wirtschaft und Menschen getroffen. Der Trugschluss -dass, wenn wir das Klima schützen, die Wirtschaft gefährdet sei- muss überwunden werden. Konkrete Möglichkeiten, wie E-Mobilität, regenerative Energien, die gezielte Unterstützung von Innovationen durch Fördermittel und weitere lassen sich auch in den Forderungen z.B. der scientists4future, nachlesen, wir müssen diese aber endlich umsetzen.“
4. In Ihrer Freizeit gehen Sie gerne hier in den Wäldern spazieren. Mit Sorge schauen wir Grünen Engelskirchen nach Buschhausen und der mit dem geplanten Neubaugebiet einhergehenden Waldrodung. Außerdem sehen durch Dürre und Borkenkäfer die Wälder um Gummersbach herum sehr schlecht aus. Auch Waldbrände werden immer stärker zur Bedrohung heimischer Wälder. Welche konkreten Handlungsmöglichkeiten schweben Ihnen vor, um echten Waldschutz zu gewährleisten?
Sabine Grützmacher: „Ich wohne selber in Gummersbach am Hömerich, dort gab es letztes Jahr den wirklich riesigen Waldbrand mit katastrophalen Folgen. Der Dürremonitor NRW zeigt uns deutlich, dass wir mit Waldbränden rechnen müssen, echter Waldschutz muss die Frage stellen, ob wir unter Wald wirklich reine Monokulturen verstehen. Man muss einem Wald 5-10 Jahre Ruhe geben, die Bäume versetzt pflanzen, damit er sich erholt. Wichtig ist auch, dass Rückkaufoptionen von Kommunen und Genossenschaften für kleinere Waldbesitzer angeboten werden, damit Landgrabbing von ausländischen Investoren vermieden werden kann.“
5. Aus aktuellem Anlass drängt sich die Frage auf, welche Strategien verfolgt werden sollten, um Mensch und Tier vor zukünftigen Hochwasserkatastrophen zu schützen?
Sabine Grützmacher: „Hier ist eine Mischung aus guter Politik auf kommunaler sowie bundespolitischer Ebene notwendig. Insgesamt brauchen wir natürlich eine echte Klimaschutz-Politik, doch wir brauchen auch funktionierenden Katastrophenschutz. Es müssen tausendjährige Wetterereignisse in die Bauleitplanung mitaufgenommen werden, anstatt ausschließlich hundertjährige Wetterereignisse. Die starke Flächenversiegelung hängt auch mit Hochwasserkatastrophen zusammen. Ich muss mir in der Politik die Frage stellen: Was versiegel ich noch oder wo kann ich bestehende Flächen eher nutzen und sanieren? Was uns bezüglich der jüngst geschehenen Flutkatastrophe geholfen hätte, wäre ein Cell Broadcast System. Dies schickt automatisch Warnnachrichten, bevor es zur Katastrophe kommt. Es ist nicht rückverfolgbar, wer die Nachrichten bekommt, das heißt, wir haben hier auch kein Datenschutzthema, wie oft befürchtet. Es gibt auch die Forderung nach einem interdisziplinären Forschungszentrum, in dem unterschiedlichste Katastrophenszenarien durchgespielt werden. Die Katastrophenkommunikation muss insgesamt verbessert werden. Außerdem muss individuell geschaut werden, wo genau Renaturierungen von Flüssen Sinn machen, wo sie einfach durchführbar sind und ob Rückhaltebecken und Auslaufflächen bestehen. Insgesamt müssen wir uns fragen, wie das Bauen in der Nähe eines Flusses aussehen soll.“
6. Ihnen sind fahrradfreundliche Ortschaften und eine verbesserte Lebensqualität wichtig. Wie kann es mit den Grünen in der Regierungsbeteiligung gelingen, eine zukunftsweisende Verkehrspolitik im ländlichen Raum zu schaffen? Wie kann man Anreize für E-Mobilität schaffen?
Sabine Grützmacher: „Wir brauchen einen guten Mix, im ländlichen Raum ist der komplette Verzicht auf das Auto derzeit oft fast unmöglich. Mein Mann arbeitet im Schichtdienst als Altenpfleger und würde alleine mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht zur Arbeit kommen. Der ÖPNV muss außerdem eine echte Alternative werden mit mehr Busverbindungen. Wie komme ich zu bestimmten Verkehrsknotenpunkten unter 10km mit dem Fahrrad? Hier bedarf es örtlich vor allem sicherer Radwege und einer Kombination von E-Mobilität, Car-Sharing, Rad und Bahn. Im Bereich der Digitalisierung sollten auch Lösungen der Mobilität miteinander kombiniert werden. Es ist umständlich, für jedes Verkehrsmittel in eine andere App schauen zu müssen; die Angebote sollten bequem und pragmatisch sichtbar machen gemacht werden.“
7. Ein derzeit stark debattiertes Thema ist auch die Energiegewinnung aus regenerativen Quellen. Welche Möglichkeiten der bezahlbaren, sauberen Energie gibt es hier im ländlichen Raum, die noch mehr gefördert werden können?
Sabine Grützmacher: „Der Bürokratieabbau muss gefördert werden. Möchte ich Energie aus eigenen Aggregaten gewinnen, gibt es derzeit noch zu viele bürokratische Schritte. Diese müssen abgebaut und pragmatische Möglichkeiten geschaffen werden, damit Energie für den eigenen Bedarf unkompliziert gewonnen werden kann. Die Energiegenossenschaften sollten deshalb gestärkt und Baugebiete energieautark erschlossen werden.“
8. Wie verbinden die Grünen eine starke Wirtschaft mit einer nachhaltigen Lebensweise?
Sabine Grützmacher: „Es muss jedem klar sein, dass wir nicht ewig und unkontrolliert wachsen können. Wir brauchen ein Recht auf Reparatur und müssen Ressourcen wie seltene Erden sorgsam einsetzen. Ich bin aber auch optimistisch, denn wir hatten gerade in Waldbröl eine Veranstaltung mit Gerd Ribbeck, der ökologische Holzhäuser baut. Wir können alle im Kleinen Dinge ändern, aber Politik muss die Rahmenbedingungen schaffen, damit wir auch systematisch eine nachhaltige Politik lokal wie global erreichen. Dazu gehört für mich auch, dass wir uns für ein faires Lieferkettengesetz einsetzen. Es kann nicht sein, dass hier Paketzusteller keinen Mindestlohn erhalten, weil Subunternehmer dies verhindern oder in anderen Ländern das Grundwasser verseucht wird mit Pestiziden für z.B. Schnittblumen, die möglichst billig produziert werden müssen.“
9. Was entgegnen Sie der Meinung, dass der Einfluss einer grünen Politik auf Bundesebene nicht stark genug sein könnte, so lange andere große Nationen nicht bereit sind, auch nachhaltig zu agieren? Wie kann Deutschland als Vorreiter andere Nationen anspornen?
Sabine Grützmacher: „Ja, wir stellen zwar 1% der Weltbevölkerung dar, uns gehören aber bedauerlicherweise 2% der CO2 Emission und Deutsche Kraftwerke gehören zu den schädlichsten in ganz Europa. Bei den Top 10 der CO2- Klimakillern der EU pro Kopf berechnet ist Deutschland mit dabei. Niemand sagt, dass Deutschland alleine die Welt rettet, aber wir haben das Pariser Abkommen zur Emissionssenkung in 2015 unterzeichnet und halten uns nicht an die Umsetzung. Hier müssen wir endlich anfangen, überhaupt einzuhalten, was wir zugesagt haben. Deutschland gilt auch als Land für Innovationen, das hat definitiv eine Strahlkraft.“
10. Die Massentierhaltung gehört zu den größten Klimakillern. Können wir künftig die Massentierhaltung überwinden?
Sabine Grützmacher: „Wir müssen! Wir brauchen eine Tierhaltung, für die wir uns nicht schämen müssen. Die derzeitige Tierhaltung ist total klimaschädlich, diese Produktion kann kein Mensch wollen, wenn er weiß, wie die Produktion funktioniert. Zusätzlich brauchen wir mehr ökologische Höfe.“
11. Wie könnte Ihrer Meinung nach zukünftig die nachhaltige Erschließung von Bebauungsflächen aussehen? Welche Möglichkeiten gibt es für junge Familien im Oberbergischen Kreis, die sich ein Eigenheim wünschen? Wie kann Ihrer Meinung nach hier die Politik unterstützen?
Sabine Grützmacher: „Ich kann absolut verstehen, dass man ein Traum vom Einfamilienhaus hat und in der Natur leben möchte Grundstücke werden immer kleiner, weil sich keiner mehr größere Grundstücke leisten kann, das verschärft die Problematik der Flächenversiegelung. Mit Fläche generell sollte unterschiedlich umgegangen werden und man sollte sich die Frage stellen, welche Fläche man wirklich zum Leben braucht. Vor unnötigem Flächenverbrauch und intakten Wald sollte Halt gemacht werden. Meine Idee wäre, auch mehr neue Ansätze wie Baugruppen in den Blick zu nehmen. Hier kann geschaut werde, wo es Baulücken gibt oder am besten, wo saniert werden kann – bezahlbar, ökologisch und barrierefrei mit geringerem Flächenverbrauch. Da gibt es tolle Konzepte, die bezahlbares und nachhaltiges Bauen kombinieren. Insgesamt muss aber auch bezahlbares Wohnen gefördert werden, durch Unterstützung beim Erwerb oder auch neu entstehenden Wohnungen, z.B. in Genossenschaftsformen.“
12. Fast jedes fünfte Kind in Deutschland ist von Armut bedroht oder gar betroffen. Sie sind eine von drei Geschäftsführerinnen eines gemeinnützigen Bildungsträgers und stehen für eine Politik von Mensch zu Mensch und auf Augenhöhe. Wie kann man sozialer Benachteiligung entgegenwirken?
Sabine Grützmacher: „In Coronazeiten ist die soziale Benachteiligung und Ungleichheit noch weiter angeheizt worden. Ein temporäres bedingungsloses Grundeinkommen für die Krise wäre äußerst sinnvoll gewesen. Wir haben zwar ein soziales Netz, aber die Löcher sind zu groß. Wir brauchen ein Existenzminimum, das menschenwürdig und sanktionsfrei ist sowie eine Kindergrundsicherung. Des Weiteren benötigen wir gute Beratungsstrukturen, aber wir brauchen vor allem auch die Gewissheit, in Krisensituationen nicht den Wohnraum zu verlieren oder um jedes bisschen an Hilfe mühsam mit bürokratischen Anträgen kämpfen zu müssen. Es dauert teilweise viel zu lange, bis Ansprüche durchgesetzt werden können, egal ob für Familien, arbeitslose Menschen oder z.B. auch pflegende Angehörige. Hier bräuchte es auch Clearing-Stellen, die zeitnah und unbürokratisch Ansprüche klären. Wir fordern außerdem eine Entlastung von gering und normal verdienenden Menschen und dafür aber eine etwas höhere Belastung ab einem Einkommen von über 100.000 Euro. Außerdem muss stärker gefördert werden, dass auch Leute mit kleinem Geldbeutel Eigentum erwerben können.“
13. Im Laufe der Coronapandemie sind viele Familien an ihre Grenzen gestoßen. Was kann die Politik leisten, um die Situation für Familien zu verbessern?
Sabine Grützmacher: „Erst einmal muss zugegeben werden, dass man Familien im Regen hat stehen lassen. Es gab die Möglichkeit, so etwas wie eine Coronazeit ähnlich der Elternzeit einzuführen und somit von staatlicher Seite zu entlasten, das hätte ich mir in der Krise gewünscht. Ein Ansatz zur Absicherung für Familien in Krisen ist auch die (Kinder)grundsicherung und eine Erhöhung der Hartz4-Sätze. Wir brauchen auch Luftfilteranlagen, damit Kinder sicher in die Schule gehen können und die Normalität sichergestellt wird und Unterstützung bei den Corona bedingten Bildungsrückständen. Auch die Gewalt in Familien und psychische Erkrankungen haben voraussichtlich während der Pandemie zugenommen, wir haben aber nicht von heute auf morgen mehr Beratungsstellen. Trotzdem gibt es hier definitiv Bedarf, den wir nicht aus den Augen verlieren dürfen.“
14. Unser Gesundheits- und Pflegesystem geht coronabedingt mehr denn je auf dem Zahnfleisch. Was für Möglichkeiten gibt es, das dortige Personal zu entlasten und ihre Leistungen angemessener wertzuschätzen?
Sabine Grützmacher: „Eine gute Versorgung funktioniert nicht rein profitorientiert, die Fachkräfte verlassen durchschnittlich nach 7 Jahren die Pflege, arbeiten oft Teilzeit, da sie in Vollzeit noch schneller im Burnout landen würden. Hier besteht ein großer Handlungsbedarf. Die Bezahlung muss sich verbessern. Kliniken und Einrichtungen sind derzeit auf Profit ausgerichtet, dies muss verändert werden, Unternehmensberatungen haben die Kliniken als Spekulations- und Renditeobjekte entdeckt. Aber maßlose Renditen auf Kosten der Gesundheit der Patienten und Angestellten ist ein No Go. Ebenso brauchen wir eine Bürgermedizin und die Zweiklassenmedizin muss abgeschafft werden. Die Vorortkliniken und Gesundheitszentren müssen gestärkt werden. Es muss dem Personal ermöglicht werden, menschenwürdige Pflege zu leisten unter besseren Arbeitsbedingungen. Vor allem braucht es Arbeitsbedingungen, die dem Namen Work-Life-Balance überhaupt ansatzweise gerecht werden.“
15. Gemessen an den Ergebnissen vergangener und aktueller PISA-Studien erreicht Deutschland keine zufriedenstellenden Ergebnisse. Wie kann das Bildungssystem in Deutschland verbessert werden? Wo sehen Sie akuten Handlungsbedarf?
Sabine Grützmacher: „Ich sehe bei der Chancengleichheit und definitiv bei der Ausstattung mit Personal und Material Handlungsbedarf. Unsere Schulen sind schon rein räumlich oft in schlechtem Zustand, die Kommunen werden teilweise alleine gelassen. Wir brauchen bessere Personalschlüssel und vor allem brauchen wir Bildungsansätze, die alle Kinder mitnehmen. Gerade die Coronapandemie hat gezeigt, dass auch ein eigenes Zimmer zum Lernen, PC und Lernsoftware einen Unterschied machen können, aber Bildung darf nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen.“
16. Die Wohnungsmieten steigen in Deutschland seit Jahren. Was kann eine Grüne Politik in Deutschland tun, um Mieten bezahlbarer zu machen? Welche Möglichkeiten haben sozial Benachteiligte?
Sabine Grützmacher: „Die Grünen planen ein Wohnraumförderprogramm, das in den nächsten Jahren eine Million bezahlbare Mietwohnungen fördert. Die brauchen wir dringend, jeden Tag verlieren wir 100 Sozialwohnungen. Mir ist es aber wichtig, dass es sich um finanziell benachteiligte Menschen handelt, nicht sozial benachteiligte und finanziell benachteiligt können wir am Wohnungsmarkt alle schnell werden. Deswegen müssen auch Spekulationen mit Bauland, Geldwäsche auf dem Wohnungsmarkt usw. verhindert werden. Gerade Projekte, wie Genossenschaftswohnprojekte oder Vergaben durch Kommunen, unter Berücksichtigung energetischer Bau- oder Sanierungskonzepte müssen besser gefördert werden.“
17. Sie sind an der Konzeptentwicklung für soziale Projekte und der Akquise europäischer Fördermittel beteiligt. Welche sozialen Projekte unterstützen Sie hier noch aktuell?
Sabine Grützmacher: „Derzeit führen wir auf meiner Arbeit z.B. ein Projekt zur Bekämpfung von Kinderarmut durch, das über den Europäischen Sozialfonds gefördert wird. Es macht aber auch die bürokratischen Hürden deutlich und viele Familien beantragen keine Leistungen, weil sie Angst vor möglichen Rückzahlungen haben oder ihre Ansprüche gar nicht kennen. Hier müssen wir ein anderes System finden. Außerdem akquiriere ich z.B. Projekte, die Berufsorientierung in nachhaltig produzierenden Handwerksbranchen in Form von Ferienfreizeiten zur Zielsetzung haben, somit auch einen Beitrag zum Fachkräftemangel leisten. Es sind auch Projekte, die neue Technologien in der Berufsorientierung mitdenken. Außerdem geht es um klassische Beratungsprojekte. Besonders wichtig finde ich hier, dass der Europäische Fonds für die am meisten benachteiligten Personengruppen endlich auch wohnungslose Menschen fördert und als ein Ziel die Bekämpfung der Wohnungslosigkeit bis 2030 im neuen ESF Plus als Ziel verankert wurde.“
18. Wie ist Ihre Haltung zum aktuellen System der Besteuerung in Deutschland? Wo gibt es Verbesserungspotenzial?
Sabine Grützmacher: „Verbesserungspotential gibt es vor allem in der Umsetzung; Deutschland kann für große Konzerne teilweise schon fast als Steueroase angesehen werden. Es gibt vielfältigste Möglichkeiten der sogenannten Steueroptimierung für multinationale Konzerne, die uns mindestens 20 Milliarden Euro pro Jahr kosten, während die kleinen und mittelständigen Unternehmen hier ordentlich ihre Steuern zahlen. Finanzlobbyismus ist außerdem ein riesiges Thema, auch wenn gerade Amnesie im Untersuchungsausschuss herrschte, kann es nicht sein, dass Bürger*innen geschädigt werden durch Skandale wie Wirecard oder Cum Ex (55 Milliarden Euro Schaden), den wir dann gesamtgesellschaftlich bezahlen dürfen!“
19. Sie treten für die Rechte der Frauen in einer modernen Gesellschaft ein. Was muss sich in Deutschland verändern, damit alle Menschen unabhängig von Geschlecht oder Herkunft gleichberechtigt sind (sowohl im beruflichen als auch im privaten Kontext)?
Sabine Grützmacher: „Wir brauchen eine faire Repräsentation in Politik und Wirtschaft, ich bin z.B. auch für Quoten in Aufsichtsräten. Es gibt unzählige Studien die zeigen, dass das auch wirtschaftlich absolut sinnvoll ist, auch Unternehmen profitieren von einer Diversity Strategie.“
20. Deutschland ist lediglich nur digitaler Durchschnitt, wenn man die führenden Volkswirtschaften miteinander vergleicht. Die Coronapandemie und das damit verbundene Home-Schooling hat einmal mehr die Schwächen unserer digitalen Infrastruktur offengelegt. Wo sehen Sie insbesondere hier Lösungsansätze?
Sabine Grützmacher: „Es geht nicht nur um die reine Hardwareausstattung. Gerade in Zeiten von Corona wird deutlich, dass wir endlich auch in Deutschland einen vernünftigen Glasfaser-Ausbau brauchen, wir hatten genug Zeit. Es gibt aber auch im Bereich der Bildungssoftwareanbieter Lobbyismus und nicht alles, was sich als digital gut klingende Lösung präsentiert, sollte unhinterfragt in unseren Klassenzimmern Einzug halten. Wir müssen Lehrer*innen mitnehmen, sie brauchen Zeit und Ressourcen, um Schüler*innen auch digitale Mündigkeit und einen reflektierten Umgang mit neuen Technologien vermitteln zu können. Wir brauchen eine demokratische Digitalisierung, die auch Menschenrechte mitdenkt und gerade bei neuen, auf Algorithmen basierenden Produkten auch kritisch hinterfragt, wem Daten gehören und was mit diesen Daten passiert. Welche Technologien bringen uns gesamtgesellschaftlich weiter und welche sind zu hinterfragen? Ich bin z.B. eine absolute Gegnerin von Quellentelekommunikationsüberwachung oder Gesichtserkennung in Videoüberwachung.“
21. Wie planen Sie, unsere kommunalen Anliegen in den Bundestag zu bringen?
Sabine Grützmacher: „Die Gestaltung der Fördermittel bietet eine gute Gelegenheiten. Die Grünen planen außerdem eine neue Gemeinschaftsaufgabe, die „regionale Daseinsvorsorge“. Diese soll längerfristige und besser ausgestattete Fördergelder, die strukturschwache und ländliche Regionen sinnvoller und langfristiger unterstützen, als es die jetzige Fördermittelkulisse kann. Je nachdem wie die Ausschussbesetzung aussehen wird, sind das Themen, bei denen ich mich mit meinem Wissen gerne einbringen würde.“
22. Welches sind in der Zukunft Ihre persönlichen und beruflichen Ziele (kurz-/mittel-/langfristig)?
Sabine Grützmacher: „Ich möchte mich sinnvoll in Berlin einbringen. Ich bringe einige Themenfelder mit, mir ist wichtig, dass ich wirklich mitgestalten kann. An kleinen Dingen zeigen sich große Veränderungen, ich möchte, dass wir für die Politik sorgen, die z.B. das Rückkehrrecht in die Krankenversicherung für wohnungslose Menschen sichert, die Wohnraum wieder bezahlbar macht, die Menschen eine würdevolle Existenz sichert und die das Wort enkeltauglich ernst nimmt. Mittel- und langfristig habe ich gelernt, dass das Leben dann doch anders kommt, als ich es bislang geplant habe. Ich finde den Bereich der Bildungsinformatik und des Lobbyismus in diesem speziellen Feld aber bedenklich und habe mir vorgenommen, mich auch langfristig mit Themen der Netzpolitik auseinanderzusetzen.“
23. Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, was würden Sie sich für die politische Zukunft wünschen?
Sabine Grützmacher: „Ich wünsche mir ein wirklich transparentes Lobbyregister mit legislativem Fußabdruck, denn ich hoffe, dass damit die Übermacht im Bereich der Lobbyarbeit multinationaler Konzerne gerade im Bereich der Finanzwirtschaft, aber auch im Bereich Klimaschutz damit ein großes Gegengewicht erhalten würde.“
Vielen Dank für das interessante Interview.
23.06.2022, 19:00 Uhr
Ortsversammlung der Grünen
in Engelskirchen
Präsenz- oder
Online-Veranstaltung
(Details siehe hier)
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